Franziska Kuba II

Ich habe das Handbuch von Franz Schubert gelesen. Ein HANDBUCH! Vorher war mir nicht richtig klar, was das heißt. Hier werden tatsächlich nach einem Abschnitt über das Leben und die Lebenswelt Schuberts alle seine Werke aufgezählt, analysiert und kontextualisiert. Ich lerne: Schubert gilt als der erste Komponist, der tatsächlich von seinen Kompositionsveröffentlichungen leben konnte. Er hatte so gutes Einkommen, dass er sogar einige seine FreundInnen durch schwierige, finanzielle Zeiten tragen konnte und es wohl auch tat. Er traf sich immer zu in FreundInnenkreisen - ganz verschiedene: Der “Linzer” und “Wiener” Kreis, KomponistInnen - und MalerInnenkreise. Sie musizierten zusammen, lasen sich Gedichte vor, zeigten sich ihre Kunstwerke und profitierten voneinander. Ganz im Sinne der romantischen Vorstellung einer Universalkunst konnten so die Künste problemlos nebeneinander stehen. Felix Mendelssohn Bartholdy z.B. war ein ausgezeichneter Maler und verbrachte viele seiner Stunden damit, Gegenden zu zeichnen, durch die er gereist ist. Als Erinnerung, Fotografie quasi. Na gut, wir kommen zurück zu Schubert. Das Private war im zensurlastigen Zeitalter Metternichs auf einmal sehr wichtig geworden. Die adeligen Kreise richteten zwar auch noch Salons aus, aber der Bürgerliche - heute vllt der Mittelständler? - zog sich ins Biedermeierische zurück. Schubert zog sich nicht zu adeligen Kreisen hingezogen - ganz im Gegensatz zu unserem hochgeschätzten Beethoven, der in der gleichen Stadt lebte. Ihre Lebensjahr überkreuzten sich sogar zu einem nicht unerheblichen Teil. Beethoven stab nur ein Jahr vor Schubert. Er wurde jedoch 57 Jahre alt, Schubert nur 31. Gleiche Region, ähnliches Zeitalter und völlig unterschiedliche Musik. Zurück zum Biedermeierschen. Man behauptet sogar, Schuberts Lieder und die Lieder dessen ZeitgenossInnen waren politisch. Was? Wie kann man das denn ersehen? Ich dachte, Rückbesinnung zur Natur etc. wäre quasi eine Biokultur… Nein? Das werden wir wohl in diesen Wochen der Blogbusterei besprechen und hinterfragen müssen.

Also stellen wir uns die Frage, worum geht es in der Winterreise? Um eine Reise? Eine tatsächliche meine ich? So mit in Frankfurt loslaufen und in Hamburg ankommen? Oder geht es um die Jahreszeiten? Um den Frühlingstraum, um Schnee und Eis, um stürmische Morgende und herabfallende Blätter? Geht es um die Erinnerungen eines Mannse oder könnte der/die ProtagonistIn auch eine Frau sein? Ich stelle Suggestivfragen.. Ich habe für mich noch nicht entscheiden können, worum es genau geht. Philip? Schauen wir in die Nummer 14. Der Greise Kopf. Ich versuche eine erste Annäherung. Wilhelm Müller dichtet:

Der Reif hatt’ einen weißen Schein
Mir übers Haar gestreuet.
Da glaubt’ ich schon ein Greis zu sein,
Und hab mich sehr gefreuet.

Doch bald ist er hinweggetaut,
Hab wieder schwarze Haare,
Dass mir’s vor meiner Jugend graut -
Wie weit noch bis zur Bahre!

Vom Abendrot zum Morgenlicht
Ward mancher Kopf zum Greise.
Wer glaubt’s? und meiner ward es nicht
Auf dieser ganzen Reise!

Ganz vordergründig ist rein textlich betrachtet der Ausdruck einer Todessehnsucht. Die Jugend, die üblicher Weise als erstrebenswerter (zynisch!) angesehen wird, ist in den Augen des/der ProtagonistIn das Übel. (“da glaubt ich schon ein Greis zu sein und hab mir sehr gefreuet”; “dass mir’s vor meiner Jugend graut”). “Wie weit noch bis zur Bahre?” ist die hilflose Frage, wann endlich Schluss ist mit den Qualen des Lebens. Diese Frage impliziert gleich eine Reise. Wie weit noch?
In Schuberts Aussetzung haben wir rezitativähnliche Melodieführung. Gefühlsregungen durch melismatische Bewegungn kommen nur selten vor. Die Ausgangstonart ist c-Moll. Takt 21 wird ganz tonmalerisch: Die Melodie bewegt sich chromatisch aufwärts zur Textzeile “Dass mir’s vor meiner Jugend graut”. Schubert drückte oft durch chromatische Bewegungen Entsetzen aus. Der Bass im Klavier ist ein Lamentobass - also er weint musikalisch. Ensetzen also begleitet durch Schluchzen. Gleich danach, zu den Zeilen “Wie weit noch bis zur Bahre”, gehen Begleitung und Melodie unisono in Oktaven. Der Klang wird hohl. Als ZuhörerInnen können wir nur noch Bedrückung und Resignation spüren.

Dieser dramatische Mittelteil ist eingeklammert durch die Metapher des Reifes. Der/die ProtagonistIn freut sich über graue Haare, die der Reif hinterlassen hat. Nachts, also vom Abendrot zum Morgenlicht, ist so mancher schon grau geworden. Logisch. Reif bildet sich nachts. Grau/alt wird man beim Träumen? Beim Schlafen? In schlaflosen Nächsten? Das kann ich gut nachvollziehen. Nachts fühlen sich oft Probleme und Situationen größer an als am Tag. Morgens wache ich dann auf und stelle fest, dass mir ganz umsonst graue Haare gewachsen sind. Und ich freue mich dann, dass der Tag den Reif von meinem Kopfe trocknet. Der/die arme Protagonist*in ärgert sich: “Wer glaubt’s? und meiner ward es nicht”. Die Freude und Erleichterung des Tages kommen hier zu spät. Er/sie ist niedergeschlagen und will endlich nicht mehr jung sein. Die Reise geht aber weiter. Puh… Was hat das mit mir zu tun? Ich mache mir Sorgen, meine Empathie dreht mir den Magen um.

Ich höre eine Aufnahme von Thomas Quastoff hier. Die Gefühlszustände von Freude beim Erblicken des grauen Schopfes, zur Entsetzung, dem Schreck vor der Jugend und der Hoffnungslosigkeit und Resignation in den Oktavparallelen und dem Warten auf die Bahre bis hin zur enttäuschenden Erkenntis, dass die Reise wohl noch weiter geht. All das kann man bei Quastoff und seiner Begleitung unglaublich gut raushören. Danke für die schöne Aufnahme, Herr Quastoff.

Also stelle ich mir erneut die Frage: Was hat der greise Kopf mit mir zu tun? Mit meinem Leben, mit meiner Erfahrung? Diese Frage stelle ich mir bei jedem Stück, dem ich in meinem künstlerischen Alltag begegne. Und dann kommt es mir: In dieser pandemieüberladenen Zeit freue ich mich manchmal darüber, dass wir schon viel Zeit “geschafft” haben. Und ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis es endlich vorbei ist. Bis ich wieder normal mit meinen Chören proben kann. Bis wir wieder beieinander sein können. Bis die Konzerthäuser wieder normal geöffnet haben. Bis die freie Kulturszene wieder abgefahrere Konzerte machen darf. Bis ich wieder Cafés und Restaurants, Shops und Clubs sorgenfrei und maskenfrei betreten darf. Bis ich kein Abstand halten muss, sondern Abstand halten darf. Und wenn die Zeit etwas voranschreitet und gewisse Einschränkungen vergessen werden (der Reif, der die Erinnerung verschleiert?) und ich plötzlich wieder entsetzt erwache, von der Realität eingeholt werde und mir klar wird, “mist, diese Situation mit ihren Gefahren und damit einhergehenden Einschränkungen wird uns noch lange und auf unbestimmte Zeit begleiten.” Dann spüre ich auch eine Art Resignation und das bedrückende Gefühl, noch eine lange, beschwerliche Reise vor mir zu haben. Meine Sehnsucht auf die Zeit “danach” wächst auf jeden Fall stetig.

Und dennoch Herr Müller: “Lassen Sie den Kopf nicht hängen. Jede Reise bürgt auch Möglichkeiten!”.

Mit diesen auffallend aufheiternden Schlussworten melde ich mich von meinem zweiten Post ab.

Franziska Kuba