Philip Frischkorn I

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Es beginnt in zartem d-moll. (Aber nur im Notentext, denn der Weg ans Klavier bringt ans Tageslicht: bei Fischer-Dieskau erklingt c-moll) Nichts klingt also wie es scheint.

Ich bin also mit meinen Vorurteilen beschäftigt, versuche zurückzudenken an meine erste Begegnung mit Schuberts Winterreise. Welche Vorurteile lassen sich in den nächsten Wochen durch genaues Lesen und Hören entkräften, welche bestätigen sich? Wo findet sich in der Musik und der Lyrik Trost, und an welchen Punkten ecke ich vielleicht an? Wer schreibt da über seine Einsamkeit und wer komponiert zu diesen Zeilen Musik, die ein neues zärtliches Verständnis ermöglichen?

Meine erste Berührung mit romantischer Lyrik reicht in die Schulzeit zurück. Jede Zeile kam mir wie ein Rätsel vor. Im Dickicht der Methaphern wurde ich von der festen Überzeugung geleitet, die vor mir liegenden Zeilen wären zunächst unverständlich und die Tore ihres Sinnes könnten nur durch geheime Schlüssel geöffnet werden, und der eigenen verschlugenen Logik folgend habe ich nichts verstanden. Woher sollte ich auch den Schlüsselbund haben. Jetzt spüre ich den selben Funken der Verunsicherung. Kann ich die Winterreise überhaupt richtig verstehen, oder ziehe ich ihr fremd entgegen, nur um später doch fremd wieder einem neuen Thema entgegen ziehen zu müssen?

Seitdem geht mit meiner Vorstellung des Romantischen eine herbstliche Traurigkeit einher. Die Welt der Romantik ist für mich ein ins Unendliche gedehnter Sonnenuntergang. (und schon die erste kleine Recherche ergiebt: was ich für einen Untergang halte, ist eine Aufgang, das Bild heißt: Mondaufgang am Meer) Etwas neigt sich. Der Tag neigt sich dem Ende. Die Müdigkeit greift um sich, Lebensmüdigkeit. Es wird innegehalten und im bewegungslosen Blicken in die Ferne spielt sich das eigentliche Drama im Inneren ab, im Erinnern. Da ist die lebendige Bewegung. Und traurigerweise liegt sie in der Vergangenheit. Der Vorgang des Erinnerns wird zum Inbegriff des Melancholischen, weil die zu erinnernde Zeit immer schon vergangen ist. Was bleibt einem am Ende des Tages – im Sonnenuntergang – außer der Gedanke, wie schön es war, und dass vorbei eben vorbei ist. Am Vorbei kommen wir aber nicht vorbei. Hier treiben meine Gedanken mich Elfriede Jelinek entgegen, aber dazu wird in den nächsten Wochen genug Zeit bleiben.

Und dann kommt Schubert ins Spiel. Fängt die Schubertsche Musik an zu spielen. Spielen sich in meiner Vorstellung Liederabende unter Freunden ab. MusikversteherInnen in andächtigem Lauschen, voller Sensibilität für die feinen Nuancen der Variationen und Modulationen. Ein weiteres Vorurteil aus dem Schulunterricht kommt mir in den Sinn: Schubert der einsame Homosexuelle. Unverstanden und einsam in unerfülltem Verlangen. Auf jeden Fall will ich in den nächsten Wochen eine Biographie über den Franz lesen. Wer war das? Wo hat er gelebt und komponiert, mit wem seine Abende und Nächte verbracht? Mit wem hat er in den Sonnenuntergang geblickt und über die Zeit nachgedacht?

Ich schließe mit einem Geständnis. Vor den Proben zu „Winterreise/Winterreise“ gehörte Schubert als Komponist nicht zu meinen Favoriten. Vielleicht mit Ausnahme eines Klaviertrios und im Speziellen dem langsamen Satz der B-Dur Sonate D 960: hier in einem kleinen Auszug gespielt von Sviatoslav Richter. („I find things disturbing. I´m talking about life in general, not music. Anything that is a distraction… Whatever is superfluous. I do not like myself. That´s it.“ sagt Sviatoslav Richter) Aber umso mehr ich die Musik spiele, fange ich an, ihre vielleicht etwas spröde Qualität zu schätzen. Die vielen Wiederhohlungen, die Brüche, die oft auch techische Schwierigkeiten mit sich bringen, das Kreisende, die langen Modulationen, das sich Dehnen der Zeit, weil die einzelnen Sätze manchmal so lange dauern…

Damit endet es. Mit der Beruhigung. Der Verlangsamung. Und damit begann es. Mit dem Lockdown. Der erzwungenen Verlangsamung. Mal sehen, wo es uns hinführt…

Franziska Kuba