Philip Frischkorn III

16.9.2020 Über Interpretation

Das Gespräch ist ein ein Vorgang der Verständigung. So gehört zu jedem echten Gespräch, dass man auf den anderen eingeht, seine Gesichtspunkte wirklich gelten lässt und sich sofern in ihn versetzt, als man ihn zwar nicht als diese Individualität verstehen will, wohl aber das, was er sagt.

Ich hoffe ich werde dir gerecht.

Ich höre in deinem letzten Text die zarten Anfangstöne eines Gesprächs. Gadamer folgend – die Zitate stammen aus „Wahrheit und Methode“ – versuche ich also zuerst deine Gesichtspunkte wirklich gelten zu lassen. Nicht weil ich deine Gefühle verstehen will, sondern deine Position zur Interpretation. Wir versuchen die Winterreise zu lesen… Als erstes meine ich beim Lesen deines letzten blog-Eintrags den großen Respekt vor dem Werk Schuberts zu hören. Oder ist es sogar ein doppelter Respekt. Der vor dem Notentext und der Respekt vor der Person Schubert selber, der diesen Text erschaffen hat?

Ich lese: „Wenn ich ein Stück […] aufführe, versuche ich mich […] ihm anzunähern.“ Da bin ich ganz bei dir Franziska. Was uns als erstes gegenübersteht ist der Text – der Notentext – und das auf einigen Ebenen. Zunächst tatsächlich die Noten, die Sprache. Dann all die Zeichen einer Aufführungspraxis. Die Bindungen und Artikulationen, die Kommata, die Bindestriche, die Dynamikbezeichnungen, eine zweiter Code, der den Text erst in seinem ganzen Sinngehalt erschließbar macht. Aber irgendwann ist alles gelesen, was an Text da ist. Alle Zeichen studiert und vielleicht ist immer noch nicht sicher festzustellen, was uns der Text sagen soll. Aber hier beginnen die Probleme. Denn – es ist banal, aber deswegen nicht weniger wahr – Schubert ist tot. Wir können nicht mehr mit ihm sprechen, oder ihn fragen, was seine Zeichensprache uns sagen will. Diese Möglichkeit sicherzustellen, dass wir ihn „richtig“ verstanden haben, bleibt uns nicht. Das Gespräch kommt ins stocken. Es kann also nicht nur auf die Antworten ankommen, sondern mir scheinen die Fragen das Entscheidende.

„In der Schrift ist alles Überlieferte für jeden Gegenwart gleichzeitig. In ihr besteht mithin eine einzigartige Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart.“

Schubert hat etwas aufgeschrieben und nur deswegen können wir heute noch seine Musik hören. Stellen wir uns vor er hätte sie immer nur vorgespielt – der Franz – und wir würden sie jetzt lernen von einer Person, die in einer langen Kette von Personen – der Flüsterpost ähnlich – die Musik ursprünglich mal vom Franz selber gelernt hätte, viele Fragen würden wir uns nicht stellen. Es wäre immer noch sehr unsicher, ob nicht ein wichtiger Teil der Informationen untergegangen wäre, weil jemand sich verspielt oder verhört hat, aber unsere Quelle wäre die Person direkt vor uns, und die könnten wir dann nur fragen: „bist du dir sicher, dass du das so gehört hast?“ Unsere Situation ist aber eine andere. Vor uns der Text, der die Zeit überdauert hat und zwischen uns und dem Text dieser Graben aus Zeit, den wir versuchen zu überbrücken. Du schreibst von Übersetzung: „Ich übersetze mir das Stück in meine Lebenswelt.“ Das Übersetzen ist ein schönes Bild. Der Übersetzer versucht ja gerade einen Sinn von der einen in die andere Sprache zu übertragen. Die Sprache verändert sich, das was in ihr gesagt werden soll, aber im besten Falle nicht.

Der Übersetzer ist sich des notwendigen Abstandes vom Original oft schmerzlich bewusst. Sein Umgang mit dem Text hat selbst etwas von der Bemühung um Verständigung im Gespräch. Nur dass die Situation hier die eine besonders mühsamen Verständigung ist, […]

Wir haben es also im Fall der Interpretation mit einer besonders mühsamen Verständigung zu tun. Du kannst ja morgen oder übermorgen auf meinen blog reagieren. Aber wenn wir Schubert lesen, stellen wir selbst die Fragen, suchen selbst die Antworten, und müssen zudem gleichzeitig den Text aus dem 19. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert übersetzen und ihn uns zu diesem Zweck zu eigen machen. Das alles nur weil es die Schrift gibt; die Notenschrift.

„Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung“

Und hier trennen sich unsere Wege vielleicht für einen Moment. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir gleich wieder auf ähnlichen Pfaden wandern. Komponieren ist für mich die rätselhafte Erfahrung der Selbstentfremdung. Im Prozess des Komponieren treffe ich eine unüberschaubare Menge an Entscheidungen, für und gegen die eine oder andere Note, eine Akkord, ein Dynamik, und ist dieser Prozess abgeschlossen, kann ich manchmal nicht genau sagen, wie die Entscheidungen zustande gekommen sind – als ob sie ein anderer getroffen hätte. Dieses Gefühl verstärkt sich bei Kompositionen, die einige Jahre alt sind und nicht mehr Teil des aktuellen Repertoires einer Band. Es kommt vor, dass ich ein Gefühl der Fremdheit meiner eigenen Schrift gegenüber empfinde. Was mir dann bleibt ist, das geschriebene ernst zu nehmen und zur Basis der Aufführung zu machen. Die Erfahrung lässt sich vielleicht sogar verallgemeinern. Ich glaube es geht wahrscheinlich jedem so, der Tagebuch führt. Auf fast magische weise kann man in das stumme Gespräch mit einem früheren Selbst treten. Die Gefühle von damals sind zugleich vergangen und doch im Text wieder lebendig. Also ist Vorbei gar nicht Vorbei? Oder anders gesagt, das Vorbei kann manchmal zur Gegenwart werden?

Die musikalische Schrift beschäftigt mich in meinem Alltag in einer weitern Facette. Ich bin fast immer gleichzeitig Komponist und Interpret. Diese Doppelrolle bringt mit sich, dass das Komponieren nicht mit der Fixierung des Notentextes aufhört, sondern dass ich in der Probenarbeit noch relevante – nicht schriftlich festgehaltene Informationen – Facetten der Aufführung mitbestimmen und erklären kann. Ich teile also dein grundsätzliches Gefühl, dass es eine große Menge an Informationen geben kann, die den Notentext besser beleuchten. Du schreibst: „Ich informiere mich über Aufführungspraxen in Schuberts Kontexten.“ Meine musikalische Erfahrung ist: zwischen Text und Praxis – dem Wie des Tuns – gibt es oft Differenzen. Soweit ich das verstehe, dient dein Studium der Biographie Schuberts nicht allein historischen Zwecken, sondern soll in erster Linie Unklarheiten im Notentext beseitigen. Ich erinnere mich daran, wie du beim joggen um den See davon erzählt hast, mit welch akribischem Detektivsinn im „Schubert Handbuch“ beschrieben ist, welche Zeichen welche Bedeutung für Schubert haben. Du hast vom Unterschied zwischen decresc. einem einfach Leiser-Werden, und diminuendo einem Leiser-Werden bei gleichzeitigem Langsamer-Werden erzählt. Wer das nicht weiß, wird in seiner/ihrer Interpretation sicher nicht so genau treffen, was Schubert schreiben wollte.

Und jetzt ist da dieser Notentext, aber er erklingt nur in der Aufführung. Und jede Aufführung ist anders. So sehr sie sich darum bemüht sich zu wiederholen. Die perfekte Wiederholung gibt es nicht. Die Differenzen in den Wiederholungen mache ich auf einer nächsten Ebene vielleicht sogar zur Basis meines Schaffens, denn im Kontext der Improvisierenden Musik ist eine geteilte Spielregel: Der Text wird in der Aufführung verhandelt. Das bedeutet verschiedene Dinge. In vielen Stücken spielen wir immer wieder die gleiche Melodie und dazu die gleichen Harmonien. Aber die genaue Struktur der Harmonie – die Lage und dichte – variiert von Aufführung zu Aufführung. Die Entwicklung eines Stückes ist jeden Abend anders. Die Länge der Soli ist nicht festgelegt. Dabei gibt es aber durchaus unterschiedliche Freiheitsgrade von Stück zu Stück. Mancher Text bleibt bewusst sehr skizzenhaft, andere Musik lehnt sich sehr an das klassische Vorbild eines genau formulierten Textes an. Daran zeigt sich aber etwas Grundsätzliches. Die Aufführung eines Musikstückes ist nie eine exakte Wiederholung einer schon einmal da gewesenen Aufführung. Der schöne Schein liegt für das Publikum in der Annahme, dass gerade die Aufführung, die sie besuchen Gültigkeit besitzt. Und das, weil sie nie Teil der Interpreten sind, die Abend für Abend immer wieder versuchen die ideale Aufführung herzustellen und dabei Abend für Abend scheitern. Und dabei unterscheiden sich Improvisierte Musik und klassische Musik nicht grundsätzlich. In aller Unterschiedlichkeit wird gerade sichtbar was sie verbindet. Der Extremfall verändert auf der eine Seite den Text fast bist zur Unverständlichkeit (in der Improvisierenden Musik), und verhandelt auf der anderen Seite nur Nuancen des Timings und der Klangfarbe, die sich an beispielsweise an den Raum der Aufführung anpassen (in der „klassischen“ möglichst Texttreuen Musik). Vorbei ist Vorbei. Und dann höre ich an meinem Vorbei vorbei. Und das Vorbei ist jedes mal anders.

„Der Sinn einer schriftlichen Aufzeichnung ist daher grundsätzlich identifizierbar und wiederholbar. Das in der Wiederholung Identische allein ist es, das in der schriftlichen Aufzeichnung wirklich niedergelegt war. […] Es meint nicht die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich Erstes, in dem etwas gesagt oder geschrieben ist, als solches. Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn.“

Das bedeutet aber eben nicht das die Aufführung beliebig wird. In der Wiederholung bleibt einiges gleich. Nach Konzerten werde ich oft gefragt, wie viel von dem notiert ist, was ich da spiele. Ich wiederum würde gerne – Menschen, die die selben Stücke mehrmals gehört haben – fragen, was erkennen sie von Aufführung zu Aufführung wieder? Was ist der Sinn dieses oder jenes Stückes? Vielleicht zeigt der sich eher, würde ich Igor Levit bei einer Tournee hinterher reise, um zu hören was an der einen Beethoven Sonate von Abend zu Abend gleich blieb, obwohl sie immer nur ähnlich klingt. Dafür liebe ich Jazz jedenfalls sehr, weil eine große Spannung darin liegt, nicht zu wissen, wie die Aufführung klingen wird, und weil diese Spannung von Interpret und Publikum geteilt wird.

Ich glaube über Adorno gehört zu haben, dass er fände, Musik würde idealerweise gelesen wie ein Buch. Denn der Text einer Beethoven Symphonie ist eindeutiger, als seine Aufführungen. Im Idealfall würden wir den Text ohne konkrete Realisation eines Orchester innerlich hören und dabei jeden einzelne Zeichen im Text ernst nehmen. Wie schade wäre das?!

Ich denke wir beide sehen die Sache ähnlich, aber von unterschiedlichen Seiten. Unverrückbar geht es darum dem Werk gerecht zu werden. Ich kann nicht einfach irgendetwas spielen und dann behaupten das wäre beispielsweise „Das Wirtshaus“ gewesen. Die Angst vor der Unzulänglichkeit bleibt dabei ein Schatten, der uns immer folgt. Gerecht werden können wir dem Werk aber nur durch unserer Interpretation. Die wiederum ist nie perfekt. Wir sind gefangen auf einer unendlichen Treppe. “Erwäge die Möglichkeit, dass die Vollkommenheit in der Unvollkommenheit liegt.“

Wenn wir uns stritten, dann darüber wie viel das alles mit dem guten alten Franz Schubert zu tun hat. Denn wenn ich eines jedenfalls ablehne, dann die Haltung, die irgendwelche Komponisten zu Genies überhöht. Übermenschen, die göttlichen Schöpfern gleich etwas ganz Heiliges geschaffen haben. Der Schubert hat eben komponiert. Mehr nicht. Und schön hat er komponiert, zugegeben. Aber aufführen müssen wir es jetzt doch selbst, weil es dem Franz eh nicht mehr wichtig ist, wie wir es machen. Also machen wir es eben so gut wir können.

Mich würde ja interessieren wie du deine eigene Position als Chorleiterin beschreiben würdest. Du bist ja in der ambivalenten Position, dass du Musik machst ohne Musik zu machen, oder? Kannst du ein bisschen aus deiner Praxis der Einstudierung und des Konzerte dirigieren erzählen?

Franziska Kuba