Franziska Kuba III

Ich sitze in einem Café und denke darüber nach, was ich als nächstes über die Winterreise bloggen könnte. Bisher versuchen wir – also Philip und ich - einen Modus für den Blog zu finden. Philip und ich beschreiben vermehrt, wie wir ein Stück interpretieren. Daher möchte ich heute darüber berichten, wie ich persönlich mir ein Stück aneigne – also meine Methode, Interpretin zu werden. Aus meiner Erfahrung im Musizieren, Sein und Arbeiten mit Philip bemerke ich oft, dass wir sehr unterschiedliche Ansätze haben, uns Interpretationen zu erschaffen.

Mich interessiert so viel an der Winterreise und die Informationen über die Winterreise fallen quasi ins Bodenlose. Mich beschäftigt zuerst das Zusammenspiel von Text, Musik und Hintergrund. Welche unfassbar große Aufgabe für jede*n InterpretIn sich ernsthaft mit dem Stoff auseinander zu setzen. Wenn ich ein Stück, das ich musizieren möchte, aufführe, versuche ich mich Tag für Tag, Stunde um Stunde und Minute um Minute ihm anzunähern. Ich spiele Begleitung und Singstimme auf dem Klavier. Ich singe die Melodien - ob in Begleitung oder in Stimme. Ich wage mich an eine Harmonisierung, bestimme Grundtonart, Modulationen, eigne mir die Stimmführung an. Ich eigne mir das gesamt Stück an. Ich spiele erstmal, was genau in den Noten steht und wie ich die Notationsweise aus meiner heutigen Perspektive verstehe. Und dann beginnt das eigentliche Dilemma: Ich informiere mich über den Hintergrund. Über die Hintergründe, wenn ich genau sein will. Ich lese Biografien über Schubert. Lerne seine Vorlieben kennen. Seine Ausbildung, seine Familie, seine Wohnorte, seine Liebesbeziehungen, seine FreundInnen, seine Entwicklung als Komponist und Musiker. Ich erfahre, was er gelesen hat, wo er Urlaub machte, welche SchriftstellerInnen und MalerInnen ihm gefallen. Ich erfahre, in welcher Reihenfolge er welche Stücke komponierte, welche musiktheoretischen Einflüsse ihn begleitet haben. Ich eigne mir den Hintergrund über Wilhelm Müller an. Ich versuche das Gedicht zu verstehen. Erstmal so sachlich wie möglich. Ich informiere mich über Aufführungspraxen in Schuberts Kontexten, um seine MusizierpartnerInnen. Über die politische Lage in Wien zu Schuberts Zeit. Über sein Publikum… Die Informationen sind ein Fass ohne Boden und ich bin ehrlicher Weise jedes Mal aufs Neue damit überfordert, was ich alles noch herausfinden könnte.

Und dann endlich, wenn ich das Gefühl habe, vorerst genug dazugelernt zu haben, dann nehme ich erneut das Stück zur Hand und analysiere es mit meinen neu geöffneten Augen. Und durch diese Sicht versuche ich das Stück nicht nur technisch, sondern auch mit einer eigenen Interpretation zu füllen. Ich übersetze mir das Stück in meine Lebenswelt. Also was hat es heute mit mir zu tun? Was kann ich damit ausdrücken? Wie kann ich mein Publikum dieses Stück erfahrbar machen?

Aber komme ich zurück zu meinem Dilemma. Manche – Philip, zählst du dazu? - würden behaupten, durch das intensive Befassen mit Hintergründen und Aufführungspraxis ginge meine Intuition verloren. Heute hören und spielen wir eben Musik anders. Historische Aufführungspraxis (also das Musizieren als Annäherung an das, wie es mal gedacht war) wäre quasi museal. Und vielleicht stimmt das auch bis zu einem gewissen Grade. Dennoch bin ich nicht am musealen Charakter interessiert. Ich erreiche durch meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt und Hintergrund Möglichkeiten zu Neuinterpretationen und keine mir durch Medien, Aufnahmen und einflussreichen DirigentInnen oder LehrerInnen eingeflößte Fassung. Ich mache mich frei von bisher Gehörtem und versuche mich dem Stück aus Sicht des*der KomponistIn zu nähern. Ich eigne mir möglichst viele Informationen an, um danach zu entscheiden, wie ich das Werk aufführen möchte. Um am Ende bleibt immer dieser letzte Zweifel: Hab ich mich genug informiert? Schließlich könnte ich noch in diverse Handschriften, Autographen und Erstausgaben schauen. Könnte sie vergleichen. Könnte Versionen von SängerInnen erforschen, die den Liedern eigene Verzierungen hinzugefügt haben – dazu müsste ich nur eine Reise nach Wien machen und durch diverse Bibliotheken stöbern - was ich mit Sicherheit irgendwann machen werde. Ich könnte mich mit den Instrumenten dieser Zeit auseinandersetzen und auf ihnen die Stücke üben und spielen. Ich könnte mich tiefgründiger mit den Stimmvoraussetzungen und die Gesangstechniken der SängerInnen zu Schuberts Zeit beschäftigen, könnte geschichtliche Abhandlungen über Wien von 1800 – 1830 lesen, könnte Schriften von ZeitgenossInnen auftreiben…

Und dann kriege ich Herzrasen und das schlechte Gefühl von Unzulänglichkeit und beschließe, dass ich – hoffentlich und dann Gott sei Dank - noch mein ganzes Leben vor mir habe, um diese Werke klüger, gelehrter, ausdrucksstärker, erfahrener und technisch versierter aufzuführen. Ich freue mich auf meine Werkinterpretationen in 30 Jahren und auf mein peinlich berührtes Lächeln ob meiner Fassungen aus dem Jahre 2020 – man war ich da noch jung und niedlich. So stelle ich mir mein 60 Jahre altes Ich vor… Und jede Auseinandersetzung mit einem Werk ist eben jetzt nur eine Annäherung und wird sie wohl auch immer bleiben.

Und so schließe ich mit den Worten, die an meinem Badezimmerschrank seit Jahren hängen und denen ich wohl irgendwann mal Glauben schenken sollte - und auch das beschreibt meine tägliche Arbeit:

#erwäge die Möglichkeit, dass die Vollkommenheit in der Unvollkommenheit liegt.

Franziska Kuba