Interview I - Torsten Buss

Du bist Chefdramaturg am Schauspiel Leipzig und beschäftigst dich leidenschaftlich mit Texten. Im Zuge der Produktion Winterreise/Winterreise durftest du dich eingehend mit Müllers und Jelineks Winterreise auseinandersetzen. Was würdest du sagen, interessiert oder fasziniert dich besonders daran?

Torsten: An Müllers & Schuberts „Winterreise“ fasziniert mich, wie in Schlaglichtern radikal die Erschütterung eines Ichs aufgefächert wird. Radikal subjektiv – und doch nachvollziehbar, auch heute noch. Es ist eine an sich zeitlose Grundsituation, die da beschrieben wird, wenn gefühlt das Leben unter jemandem wegbricht, und plötzlich alles unsicher geworden zu sein scheint: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart.

Elfriede Jelinek zieht das dann ins Heute. Sie nutzt Müllers Worte sehr oft und webt daraus ihren Text, verarbeitet Müllers Worte oft weiter, surft auf ihnen. Vieles an Müllers Themen bleibt aktuell, staunt man, anderes führt Jelinek ins Heute weiter, in die Einsamkeit digitaler Welten oder die Einsamkeit des Alters. Bei Müller & Schubert verliert ein junges Ich seine Geborgenheit, bei Jelinek ein gealtertes Ich. Das finde ich einen starken Bogen, der sich da aus zwei auch sprachlich herausragend starken Texten ergibt.

Wenn du in drei Sätzen den Menschen Müller beschreiben sollst, wie würde das aussehen?

Torsten: Das ist schwer zu sagen. Wir kannten ihn ja alle nicht. Wenn ich mich aber auf die Biographie von Erika von Borries stütze, und auf erhaltene private Spuren, dann war er wohl ein Mensch, der sehr stark nach Anerkennung suchte. Sowohl privat, als auch gerade im Literaturbetrieb seiner Zeit. Er scheint von einer gewissen Rastlosigkeit geprägt gewesen zu sein, und auch von einer gewissen Heimatlosigkeit (wobei er wohl selbst eben nicht so richtig beantworten konnte, was für ihn Heimat hätte sein können und sollen).


Du hast dich im Vorfeld mit den Menschen Müller aber auch Schubert befasst. Warum glaubst du, hat Schubert Müllers Gedichte vertont?

Torsten: Schubert und Müller kannten sich nicht. Sie sind sich nie begegnet. Sie haben auch nicht gemeinsam an der „Winterreise“ gearbeitet. Es können also nur die Gedichte selber sein, die Schubert ein Grund waren. Die „Winterreise“ ist ein Zyklus, was Schubert sehr angesprochen haben dürfte (auch wenn er Müllers Text erst nur in 12 Gedichten begegnete; er hat aber die anderen 12 auch vertont, als er sie Monate später entdeckte). Schubert konnte also eine ganze Abfolge von zusammenhängenden Liedern gestalten, Schattierungen & Stimmungen eines Charakters musikalisch umsetzen, Zusammenhänge und Varianten und Brüche. Die Subjektivität wird ihn angesprochen haben. Und wenn ich seine Musik richtig höre, dann haben ihn auch das Expressive der Situation angesprochen und die Naturschilderungen.  

Ist es Schubert gelungen, die Essenz der Gedichte deiner Meinung nach rauszuarbeiten oder findest du einige Vertonungen nicht gelungen?

Torsten: Absolut. Ja. Und nicht nur „vertont“, sondern auch neue Ebenen geschaffen.

Vielleicht kannst du es uns sagen. Worum geht es in der Winterreise?

Torsten: Das, hoff ich, ergibt sich ein wenig aus meinen Antworten bis hierher. Ein übergreifender Aspekt wäre noch das Vergehen und das Aufhalten der Zeit – und in unserer Interpretation Winterreise/Winterreise am Schauspiel Leipzig dann noch der Punkt, was Musik damit zu tun hat. Wobei ich aber auch sehr überzeugt bin, dass es sehr sehr individuell ist, was der Abend in den Menschen anspricht oder berührt. 

Franziska Kuba