Philip Frischkorn V

19.10.2020 – Der Wegweiser

Noch bin ich in Bewegung. Aber ich fürchte nicht mehr lang. Wo stehen die Wegweiser in dieser Zeit…

Dein letzter Eintrag hat mich getröstet, Franzi. Im Zug sitzend begleitet mich die Frage, wie lange ich diesen Herbst durch Deutschland reisen kann? Wie lange ich zu Konzerten fahren kann, nach Köln, in die Schweiz, nach München? Vieles erinnert mich gerade an Mitte März und wie langsam in mein Bewusstsein sickerte, dass sich mein Leben erstmal ändern würde. Da war ein Staudamm im Fluss der Dinge. Konzerte abgesagt. Unterricht nur online. Einen kurzen Moment habe ich Angst vor der Krankheit bekommen. Habe FreundInnen nicht mehr in den Arm genommen. Beim Spazierengehen viel Abstand gehalten. Nur noch Zuhause gegessen. Es waren vielleicht zehn Menschen übrig, die ich regelmäßig gesehen habe. Die Familie nur auf dem Bildschirm. Der Fluss sammelte sich vor dem Damm und die Weite war nicht so gut zu ertragen. Die Verlangsamung der Fließgeschwindigkeit.

Da ist es überall, das Wasser. Es war schon in deinem letzten Text überall: das Meer, das Ineinanderfließen, die Flüsse. Es ist bei Müller/Schubert überall: das Rauschen, die gefrorenen Tränen, der Schnee. Ich wäre als Kind einmal beinahe ertrunken, geblieben ist der Respekt vor dem Wasser. Jetzt wo das Wasser sich wieder verlangsamt, das Leben sich wieder einbremst fühle ich mich manchmal verunsichert. In der Mitte eines Sees – schlimmer wäre das Meer – treibend, auf mich alleine gestellt. Ich neige dazu, zu glauben, andere Menschen könnten besser mit dem Stillstand umgehen, sich treiben lassen. Aber im März waren viele meiner FreundInnen nicht sofort bereit ihr Fließen in einem gestauten gleichbleibenden Zustand des Meeres aufzugeben. Vielleicht lässt sich das Leben im Fluss besser ertragen. Es nimmt der bedrohlichen Gegenwart das Gewicht, weil die Gegenwart immer schon in die Zukunft geflossen ist. Und daher kommt der Trost: vom Fließen, vom Abfließen. Auch wenn im Stausee treibend kurz die Panik aufkam, das sei es jetzt gewesen, ganz zum Stillstand sind wir ja doch nicht gekommen. Der Abfluss mag gestaut sein, verstopft ist er nicht, zumindest nicht zur Gänze.

Alles geht vorbei, schreibst du. Das hatte ich schon einmal begriffen, dass die Gefühle und Zustände an uns vorbei fließen und dass darin etwas Tröstendes liegt. Aber wie in einer unendlichen Schleife verlässt die Erkenntnis mich in regelmäßigen Abständen und ich muss sie erneut ergreifen. Gefühle können dann für mich so allumfassend sein, dass sie die Erkenntnis ertränken. Auftauchend erblicke ich sie dann am Horizont und erinnere mich, sie schon einmal – nein häufig – gesehen zu haben. Der Schmerz, der Kummer, die Panik, Angst, Unruhe – sie alle vergehen im Strom der Zeit. So traurig wie fair, auch Glück, Zufriedenheit, Extase, Ausgelassenheit und sorglose Ruhe segeln auf dem selben Boot.

Und dann kommt der letzte Weiser. Ich weiß nicht, ob es der Trost oder die Erinnerung an den Tod deiner Mutter, oder das Ende der Winterreise/Winterreise ist, aber dieser Wegweiser lässt mich in den letzten Wochen nie ganz los. Als ich deinen Text gelesen habe, Franzi, kam die Melodie und der Text jedenfalls einfach zu mir.

„Einen Weiser seh ich stehen
unverrückt vor meinem Blick,
eine Straße muss ich gehen,
die noch keiner ging zurück.“

Warum hört die Winterreise damit nicht auf? Vielleicht weil es immer noch ein bisschen fließt. Ich muss noch gehen. Dabei ist das noch-Gehen-Müssen schon zur unerträglichen Last geworden. Beim Schreiben muss ich ehrlich zugeben, dass ich das nicht richtig nachempfinden kann. Ich erinnere nur die letzten Gespräche mit meinem Großvater, lebendig, klar, und um den Abschied ringend. Und ich denke an Ellen, die den langen Schlussmonolog von Jelinek spricht: „Ich hänge doch aber noch am Leben.“ Bei Schubert gibt es gleich mehrere interessante Übersetzungen oder musikalische Subtexte dieser Situation.

Zum einen ist da der unmögliche Stillstand. Immer wieder G. Repetierend, wie die letzten Schritte, die sich nicht mehr vom Fleck bewegen. Gefangen im gehend, stillstehenden Paradox. Bei aller harmonischer Anstrengung kommt doch immer nur wieder G-Moll heraus. Auch rhythmischer Stillstand. Die Achtel weichen nicht. Sie wechseln zwar den Ort. Hallen mal aus dem Bass und mal aus dem Sopran, mal aus den Mittelstimmen, aber ihr zärtliches Rufen bleibt doch bestimmend und erbarmungslos. Nur ganz zum Schluss verdoppeln sich für das Letzte: „die noch keiner ging zurück“ die Notenwerte. Das Fließen erstarrt. Die Schritte werden langsamer. Die Atemzüge…

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Außerdem erzählt die Harmonik vom Verlieren des Grundes auf dem der Mensch steht. Seit der frühen Klassik ist der Voglersche Tonkreis eine häufig genutzte dramatische harmonische Floskel. Im Zentrum steht der Dominant-Quart-Sext-Akkord, der harmonisch vom verkürzten doppeldominantischen Septakkord mit verminderter Quinte vorbereitet wird. Der Bass kann den Grundton der Dominante jeweils chromatisch erreichen, indem er von der Terz oder der verminderten Quinte der Doppeldominante kommt. In einer entsprechenden Oberstimme ergibt sich die reziproke Gegenbewegung, während zwei Mittelstimmen das Geschehen liegend beobachten. Im Grunde kommt die ganze Dramatik also aus zwei chromatischen Gegenbewegungen.

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Eine kleine weitere chromatische Bewegung im Bass reicht aber aus, um das tonale Zentrum weit hinter sich zu lassen. Fast unmerklich bewegt sich die Harmonik von g – nach b-moll und die chromatischen Züge wiederholen sich. Aber damit nicht genug in einem weiteren Schritt gelangen wir nach c#-moll und damit aus der Perspektive des Quintenzirkels auf dem gegenüberliegenden Punkt des harmonischen Erdballs. Aber auch hier reichen zwei chromatische Anschlüsse, um uns zurück in die Ausgangstonart g-moll zu bringen. Nahes wird fremd. Fernes kommt einem ganz nah. Bei meinem Großvater dachte ich manchmal, dass sich die Sortierung der Zeit verliert. Die Erinnerungen aus seiner Kindheit waren ihm manchmal näher als die des letzten Tages. Gedichte waren gestochen scharf, aber Alltäglichkeiten verloren an Kontur. So in etwa höre ich die Auflösungserscheinungen in diesen letzten Takten von Schubert.

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Ganz zum Schluss läuft die Harmonik rückwärts. Die temporale Zange aus dem Film „Tenet“ auf harmonischer Ebene. Nachdem sich zweimal Bass und Sopran der Klavierbegleitung zum Zentrum bewegen – innerlicher wurden? – driftet in der letzten – schon verlangsamten – Kadenz alles Auseinander. In diesem Auseinanderdriften ergibt sich dann dieser schöne Moment des Rückwärts-Gehens, wenn aus Gm/D – Eb7 – C/E // C/E – Eb7 – Gm/D wird.

Dass dieser Blog geboren wurde, ist eng mit dem Staudamm Corona verwoben. Mit dem Inne-Halten und dem – wie du so schön schreibst, Franzi – Zeit-Haben. Zeit haben, um sich in die Details zu vertiefen, von der Oberfläche in die Tiefen der Winterreise abzutauchen. Ruhe haben, um den Nuancen nachzuhören, den Nachhall in sich wahrzunehmen. Ich schließe heute mit dem Mantra, das ich ich vor allem an mich richte: Die Zeit fließt, sie fehlt nicht.

 

Franziska Kuba