Franziska Kuba IV

“Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, jedes Leiden auch sein Grab.”

Was steckt hinter diesen Worten - frage ich mich selber. Es gibt nur wenige tröstende Zeilen in der Winterreise von Wilhelm Müller und doch eben ein paar. Für mich ist diese die Tröstlichste. Sie ist aus dem Irrlicht (Nr.9 in Schuberts Winterreise). Für mich drückt es das Versprechen aus, dass egal was ich erlebe, egal, wie schlimm, so wird auch jedes Leiden sich zur Ruhe legen, wenn auch manchmal erst mit dem eigenen sich-zur-Ruhe legen.

Jeder Strom, jeder Fluss, bewegt sich unaufhaltsam in Richtung des Meeres, jeder/jede Wandernde unaufhaltsam dem Ziel entgegen, jedes Leid einem Ende. Egal, ob Hindernisse auf dem Weg sind, Gebirge, tiefe Täler, unerträgliche Schicksalsschläge. All das Fließen des Wassers, alles Wandern, alles Leid treffen sich an einem Punkt, einem Meer, dem Zielort. Dort ist man nicht mehr allein. Man ist gemeinsam mit Alldem, mit den Geschichte, Erfahrungen, Krankheiten, eben Alldem, was dort hinfließt. Es trifft sich an einem Punkt und wird eins. Das Wasser wird eins.

Ich denke an Wasser, an das unaufhörliche Fließen hin zum Meer, an ein Meer, dass uns alle umgibt, unabhängig davon, ob es ein Ozean ist oder die Ostsee. Alles Wasser wird eins und wir können sogar eins mit dem Wasser werden.  Das ist für mich das Wunderbare an Seebestattungen, wo Menschen statt eines Grabes nach ihrem Tod in Form von Asche in das Meer gelassen werden. Es ist eine Zeremonie mit einem größeren Boot. Dieses hupt sogar noch drei Mal – auch das ist ein berührendes Element dieser Kultur. Seebestattungen ermöglichen, dass es nicht diesen einen Ort gibt, wo man für immer ruhen soll, sondern ein Überall, wo Wasser ist, wo es schlussendlich möglich wird, mit ihm eins zu werden. Lege ich eine Urne z.B. vor die Küste von Rügen, auf die Höhe von Saßnitz, so erinnere ich der verstorbenen Person, wenn ich mit Wasser in Berührung komme - ob in Leipzig, in Delhi oder Havanna - und fühle mich mit ihr verbunden. Meine Großeltern und meine Mutter schwimmen im Meer. Dort haben sie sich wiedertreffen können. Auch ich hoffe dort in nach einem schönen, bunten, aufregenden, verlässlichen Leben auf ein Wiedersehen, ich hoffe, selbst dort mit sein zu können, im eins, im Meer. Ich liebe das Meer – sollte das bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar geworden sein, so möchte ich das jetzt nochmal betonen. Ich liebe jegliche Formen des Meeres und von Wasser. Ich liebe im und am Wasser zu sein. Ich liebe das Meer mit dem Wind, den Sport mit dem Wasser und dem Wind. Ich liebe das Kiten und Segeln. Es bringt mich meinen Großeltern nah, meiner Mutter nah.  Das Meer hat eine unglaublich beruhigende und gleichzeitig  kraftvolle und bekräftigende Wirkung auf mich. Die Wellen, die Geräusche im und am Meer, der Geruch, die Schwerelosigkeit im Wasser, das energetisierte Bewegen mit dem Wind auf dem Wasser. Und gleichzeitig kann ich alles Leid hinter mir lassen. Das Meer beruhigt mich, dort finde ich Ruhe. Das Meer ist für mich ein wichtiger Ort. (Ich kann mich darauf verlassen, dass es immer da ist. Es wird nicht Zigaretten holen und nicht wiederkommen. Ich weiß sogar jederzeit, wo es ist, ohne dass es mir einen Standort schickt.) Gleichermaßen umgibt es mich mit jedem Wassertropfen, dessen Anwesenheit im Leben ein Privileg ist. Es ist schließlich lebensnotwendig und grausamer weise nicht für jeden Menschen immer erreichbar, zumindest nicht trink- oder tränkbar. Für mich ist es das aber, immer. Egal, wo ich mich in meinem Leben aufhalte. Ich bin sogar wohlhabend genug, es mir in Namibia zu leisten – eine Landschaft, die fast nur aus Wüste besteht!

Mit diesem Hintergrund entwickelt sich aus Müllers Bild des Stroms für mich eine bemerkenswerte Kraft.

Diesem Bild stellt er alles Leid gegenüber. Egal, was ich erlebe, egal, wie schlimm eine Situation ist, egal wie schrecklich ich verletzt werde, alles von mir erlebte Leid wird irgendwann mit mir zu Grabe gehen. Es wird dann so, wie ich es erlebt habe, nicht weiter existieren. Ich kann es durch mein Verhalten an meine Nachkommen weitergeben. Ich kann es durch das Komponieren von Liedern in der Musik verewigen, ich kann ihm durch selbstverfasste Texte darüber eine Sprache geben, ich kann ihm Worte verleihen und ihm damit hoffentlich auch etwas Kraft entziehen, aber es kann genauso, wie ich es erlebt habe, nicht ohne mich existieren. Dazu braucht es meinen funktionierenden Geist und dieser braucht mein schlagendes Herz. Und so verliert alles Leid seine Macht über mich.

Dieser Gedanke ist auch in Schuberts Vertonung dieser Zeile zu spüren. Sie besteht aus einer großen Dur-Akkordbrechung aus der tiefen Lage in die Höhe. Als würde die Quelle aus der Erde brechen und in einem reißenden Strom in Richtung Meer weiterziehen. Die Melodieführung wird mit einem Mal bewegt. Auf dem Wort „Leid“ wechselt Schubert erneut nach Moll – das Gefühl der Hoffnung auf Leidfreiheit im Grabe geht jedoch nicht verloren. Und so, wie das Wasser alles Leid wegwaschen kann, so kann die Musik durch seine Weise einen Zugang zum Unterbewusstsein zu bekommen, den Schubert hier auf ganz wunderbare Art geschaffen hat. Ich werde berührt von der Tiefe, von dem Verständnis, von der Kompromisslosigkeit im Öffnen der Seele, von der Nacktheit der Gedanken in der Komposition von Schubert und im Text von Müller.

Stell dir vor, Philip, wir würden jedes Wort, jeden Ton, jeden Background einer Komposition auf diese Art beleuchten? Wir besprächen jede Kleinigkeit und führten alles so durch, wie ich es in meinem vorgegangenen Text bereits angedeutet habe. Aber tatsächlich hätte ich gern diesen Anspruch und ich habe ihn auch. Ich will informativ, theoretisch alles begreifen und dieses mit meinen eigenen Erfahrungen und Emotionen, mit meinen Impulsen, die sich täglich, stündlich verändern können, verknüpfen. Ich will den/die DichterIn verstehen und ich will den/die KomponistIn verstehen und dann – ganz am Schluss – versuche ich durch deren Augen, mich zu verstehen. So arbeite ich, so versuche ich zu arbeiten. Das Leben und Leiden der KünstlerInnen verstehend interpretieren, soviel an Kontext in mir ansammeln, in meinem Herzen bewegen und interpretieren. Mit meinen Erfahrungen, Eindrücken, mit meinem Blick auf meine Wirklichkeit verbinden, um es dann auf die Bühne oder vor allem erstmal in meine Arbeit mit der Musik zu bringen. Manchmal finde ich traurig, dass mir auf Grund von gesellschaftlichen Ansprüchen, wie Geldverdienen oder karrieristische Vorhaben, die Zeit dazu im Grunde fehlt. In dieser Ausführlichkeit kann ich mich selten mit Werken beschäftigen.

Mein Zugang zu Texten ist naiv, vielleicht auch oft unbeholfen. Das habe ich außer im Deutschunterricht in der Schule nie wirklich gelernt – und da, wenn ich mich recht erinnere, nur sehr oberflächlich und definitiv mit wachsendem Desinteresse auf meiner Seite. Daher freue ich mich umso mehr, dass wir Torsten Buss, dem Chefdramaturg des Schauspiel Leipzig, dazu bewegen konnten, auf ein paar Fragen von uns zu Wilhelm Müller und der Winterreise schriftlich Stellung zu nehmen. Er hat sich durch die Produktion der Winterreise/Winterreise eingehend damit beschäftigt und seine Gedanken dazu sind wie immer äußerst interessant – freut euch!

Das Interview werde ich morgen veröffentlichen und freue mich auf interessierte LeserInnen.

Franziska Kuba